Digitale Strategie: Theorie vs. Praxis

In der aktuellen Ausgabe des Harvard Business Managers (Juli 2020) diskutieren die Autoren Rita McGrath und Ryan McManus in Ihrem Strategiebeitrag „klein anfangen und wachsen lassen“ die Herausforderung für etablierte Unternehmen den digitalen Herausforderern gegenüberzustehen. Nach Erfahrung der Autoren und mit einigen Beispielen untermalt ist die Reaktion meist das Infragestellen des gesamten Geschäftsmodells sowie eine millionenfache Investition, um Herrscher über neue Ökosysteme zu werden. Die Lösung der Autoren ist ein schrittweiser und experimenteller Ansatz, indem der digitale Wandel als Lernprozess angenommen werden soll. Dabei sollte man weder den Kunden aus dem Auge verlieren und auch die eigenen Talente nicht auf der Reise vergessen.

Unserer Praxiserfahrung nach und insbesondere in Industrien, die dem digitalen Wandel stark unterworfen sind, wie die Fashionindustrie und der Handel, ist das Grundsatzproblem der Bedrohung durch neue digitale Herausforderer omni präsent. Um nicht zu sagen omnichannel präsent. Jedoch ist bisher die Reaktion der etablierten Unternehmen und im Speziellen im klassischen Mittelstand nicht die millionenfache Investitionen in den radikalen Umbruch und Digitalisierung des Geschäftsmodells sondern eine gezielte Umsetzung von Themen, die einen direkten Mehrwert bieten und kurzfristiges Payback der Investition.

Wie auch die Autoren im HBM fordern, zeigt die Praxis, dass die Erarbeitung eines langfristigen Plans und Vision des eigenen Unternehmens und deren Geschäftsmodele in 5-7 Jahren eine deutliche Vereinfachung und Guideline für eine Roadmap darstellt. Insbesondere welche Themen gerade in die Priorität aufgenommen werden sollten und welche sich toll anhören aber wenig Effekt erzielen. Dabei sollte man diese Vision in eine gute Geschichte aufbereiten, die sich später dann auch mit den Mitarbeitern, Schnittstellen und weiteren Beteiligten gut teilen lässt. Wo jedoch die Projekterfahrungen hart zurückschlagen sind zwei Herausforderungen, mit denen die Theorie leider nur am Rande umgeht und auf die im späteren Verlauf noch eingegangen wird: Unternehmenskultur und Kundenfokus.

Digitale Prioritäten setzen

So kommt es nicht zwangsläufig zur Investition in das Geschäftsmodell, sondern sinnvollerweise auch in die Supply Chain und erst danach in die Veränderung der Geschäftsmodelle. Denn der radikale komplett Umbruch ist für viele Unternehmen schwer zu stemmen insbesondere in der aktuellen angespannten finanziellen Situation. Und die Umsetzung des digitalen Geschäftsmodells in Richtung der Kunden, der dann mit hohem Aufwand durch traditionelle und manuelle Prozesse gestützt wird, hat sicherlich auch sein Ziel verfehlt. Dabei kommt es ebenfalls oft zu der entscheidenden Frage in die Digitalisierung des bestehenden und erfolgreichen Geschäftsmodells investieren oder das digitale Geschäftsmodel, welches meist schon existiert aber noch wie eine zarte Pflanze wirkt, massiv ausbauen. Um es an einem simplen Beispiel auszumachen in welches Geschäftsmodel soll ein Fashionbrand, dass in allen Kanälen verkauft wird (B2B, Retail und E-Commerce) nun den Fokus legen?

Warum der Fokus auf die unterstützenden Prozesse sinnvoll sein kann und nicht nur der Vertrieb und Endkunden Berührungspunkte liegt in den heutigen Möglichkeiten der Digitalisierung. Mit dem digitalen Wandel sind Aufgaben die klassisch bisher von Unternehmen effizient erledigt werden konnten, heute durch Märkte übernommen worden. Auswahl von Lieferanten, Preisvergleiche und -verhandlungen, Durchsetzung von Verträgen oder Verwaltung von Zahlungen werden heute aus den Unternehmen ausgelagert in digitale Technologien. Den Rat, den die Autoren geben „Prüfen Sie, wo es Verbesserungsbedarf gibt, bevor Sie in die erste Programmierzeile investieren.“ Können wir mit den Erfahrungen der vergangenen Projekte nur unterstützen. Die einfache Digitalisierung eines Prozesses bringt noch keinen Effekt insbesondere, wenn dieser alles andere als effizient ist. Man sollte Aktivitäten so umgestalten, dass die Technik auch einen Mehrwert bringt.

Die Schlüsselfrage in jedem Projekt, welches sich mit Digitalisierung beschäftigt, lautet „Was bringt es mir überhaupt?“ und oftmals werden Digitalisierungsprojekte klassisch mit dem Return on Investment (ROI) berechnet. In der Praxis zeigt sich dies jedoch oft als Herausforderung da sowohl die Rendite und die Investitionskosten geschätzt werden müssen, die aber noch gar nicht vorliegen. Dazu kommen softe Faktoren, die sich monetär schwer oder nur mit nicht gerechtfertigtem Aufwand erfassen lassen. Idealerweise sucht man für die Veränderung konkrete Messgrößen aus, die den Effekt des Wandels beschreibt und den Fortschritt dann regelmäßig dokumentiert. So kann man auch Kosten und Effekte erfassen und kann im Lernprozess dann einen ROI ähnlichen Faktor berechnen.

Spielt Ihre Unternehmenskultur mit?

Was in der Theorie oft einfach klingt bedarf gerade in etablierten Unternehmen einen radikalen Kulturwandel hin zu einer agil denkenden und lernenden Organisation, die sich selbst auch das Scheitern erlaubt. Denn anders kann der erhoffte Lerneffekt nur bedingt eintreten. Weiterhin ist in diesem Kulturwandel der Faktor Mensch nicht zu vernachlässigen. Mitarbeiter, die im digitalen Wandel Ihre Arbeitsplätze bedroht sehen und Ihre Komfortzone verlassen müssen, werden nur eine wichtige Rolle im Wandel einnehmen, wenn man Sie auf diese Reise mitnimmt. Oder wie in einem Projekt ein Geschäftsführer so passend sagte: „Was hilft es, wenn wir einen wunderschönen und schnellen Formel 1 Wagen bauen, aber keinen Fahrer und keinen Mechaniker haben, die damit umgehen können. So gewinnen wir auch kein Rennen.“ Dies gilt insbesondere und hier herrscht Einigkeit mit der Theorie für Führungskräfte. In einem Unternehmen, welches von Beginn an digital gestützte Geschäftsmodelle verfolgt hat, strukturiert und überprüft die Führungskraft Transaktionen, Herangehensweisen und Annahmen in völlig anderer Weise als in klassisch geprägten Unternehmen.

Den Kundenfokus in der Digitalisierung sollte man nicht klassisch als Käufer des Produktes sehen, sondern vielmehr als Nutzer des späteren digitalen Prozesses. Der Aufbau von berühmten User Stories und Analyse, wo Schmerzpunkte in der Veränderung sind sollten Grundvoraussetzungen für einen erfolgreichen digitalen Wandel sein. Hier ist seit langem bei vielen Softwareprodukten die Frage der User Experience im Vordergrund. Was bringt die tollste Idee, die keinem einen Nutzen bringt? Ein Einkaufserlebnis zu visualisieren und in der Praxis zu testen war in unseren Projekten immer ein Erfolgsfaktor.

Zusammenfassen lassen sich die Best Practice Erkenntnisse:

  • Think big but start small: Mit einer Vision und gezielten umsetzbaren Maßnahmen kann man agil den digitalen Wandel beginnen
  • Konzentration auf den Nutzen: Digitalisierung dort einsetzen wo sie einen wirklichen Mehrwert bringt und nicht nur schön aussieht
  • Kunde im Fokus: Verbesserung des Kundenerlebnisses durch digitale Ansätze und Nutzung der Möglichkeit zu Verstärkung der Kundenbindung
  • Abhängigkeiten nicht aus dem Auge verlieren: Die Digitalisierung eines selektiven Einzelprozesses kann sogar zu Nachteilen und Mehraufwand in angrenzenden Prozessen führen
  • Die Reiseleitung nicht vergessen: Die Mitarbeiter müssen die Reise der digitalen Veränderung mit unternehmen, voranbringen und genießen

Die Praxis zeigt hier eine weite Varianz an Erfahrungen und eher agil geprägte Unternehmen nehmen die Herausforderungen des digitalen Wandels einfacher an und schaffen auch einen schnelleren Mehrwert. Die Begleitung von Unternehmen bei der Erarbeitung der Strategie oder auch nur die partielle Unterstützung für die Digitalisierung bestimmter Teilbereiche bei vorhandener Strategie, ist  eine der vielen Leistungen die Adconia gerne übernimmt.

Autor: Rainer den Ouden

Link zum Artikel: http://heft.harvardbusinessmanager.de/digital/#HM/2020/7/171530715